„DAS IST WIDERLICH, XIMI!“
Der Gnom wirkte geradezu hysterisch, als er mit den über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen einen angewiderten Blick in Richtung des Ratongas warf und seinen Blick alle paar Sekunden - als wieder einmal das Geräusch eines Beils, dass sich seinen Weg tief durch Fleisch und Knochen bahnte - an den Felswänden wiederhallte.
Der Ratonga seufzte, ließ das Hackebeil in seiner Hand sinken, hob den Kopf und guckte dem Gnom mit versteinerter Mine direkt in die Augen. Völlig gefühllos, ohne jede Schwingung in seiner Stimme, schnaufte er.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht Ximi nennen sollst, ... 'Ticki'“.
Es herrschte einige Sekunden Stille, während der Gnom, der nur wenige Schritt abseits stand, versuchte, sein völlig von mathematischen, alchemistischen und quantenterrastrischen Formeln überlastetes Hirn wenigstens für einen Moment auf die Aussage eines relativ normalen Lebewesens zu fixieren.
„Hmm ... tja ... dann nenn du mich nicht 'Ticki', Ximasal. Mein Name ist immer noch 'Tickbert'.“, der Gnom kratzte sich am Kinn, „Glaube ich jedenfalls ...“.
Ximasal lachte ein wenig heiser – die Kälte der letzten Tage hatte ihm sichtlich zu schaffen gemacht. Er setzte sein Beil an und rammte es tief in den Oberschenkel eines menschlichen Leichnams, der direkt vor ihm lag.
„Du bist echt schräg, mein Freund ...“.
Tickbert wartete einen kurzen Moment.
„Nicht schräger als du, Xima ...“.
Ximasal und Tickbert kannten sich schon ausgesprochen lange - schon als Kinder hatten sie in den Mauern von Freihafen einigen Unsinn angestiftet. Sie kannten sich bereits so lange, dass zumindest Tickbert wusste, wie lange er eine Aussage zurückhalten muss, um die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Ratonga zu erlangen.
Und wie immer traf er genau den richtigen Zeitpunkt. Bevor Ximasal zum nächsten Schlag ansetzen konnte, senkte dieser das Beil, stand auf, griff nach einem zuvor abgetrennten Arm und schliff ihn lustlos hinter sich her, nur um ihn in ein hastig ausgegrabenes Erdloch zu werfen. Der Ratonga seufzte, während er in das Grab hinabblickte.
„Du weisst doch, Ticks ... die Ehre ...“.
„Die Ehre ... ja. Ich weiß ... du versuchst alles Unheil zu vernichten.“. Wieder eine dieser bedeutungsschwangeren Pausen. Ximasal hob den Kopf ... und hörte zu. „Aber das einzige, was du vernichtest, bist du selbst.“.
Zunächst war die einzige Reaktion auf diese Aussage ein energisches Kopfschütteln. Nein, der Ratonga wusste genau, was er tat – oder zumindest glaubte er es zu wissen.
Es war ruhig. Genau diese Art von Stille, die zwischen zwei Freunden nur bedeuten konnte, dass sie keine richtigen Freunde waren. Das sie sich nicht alles erzählen konnten. Tinkbert wartete auf eine Antwort, die allerdings auf sich warten ließ. Trotz dessen, dass ihn der Anblick des zerfetzten Leichnams zutiefst erschreckte, kam er ein paar Schritte näher und legte seine Hand freundschaftlich auf Ximasals Schulter – er merkte, dass der Ratonga bedrückt war. Der Ratonga hob leicht den Kopf.
„Weisst dus, was dies Schweins getans hat?“
„Nein ... ich weiß es nicht. Du erzählst mir nie was, Kumpel ...“.
„Er hat Unschuldigs getötet. Nur um sich selbst zu bereichens“. Das passierte ständig, wenn Ximasal in irgendeinerweise erregt war. Er verfiel dem stereotypen Sprachfehler, der den Ratonga inne wohnt. Dennoch setzte er unbeirrt fort.
„Nur ... nurs ... weil sies um ihrs Überlebens gekämpft habens. Weil sies was zu Essen wolltens. Nur'n Stücks Brots ... deswegen hat er sies umgebrachts“. Der Ratonga schniefte. „Sie habens ihm was genommens, was er sich tausendfachs leisten kanns. Und er hat sies getöts ...“. Ximasal senkte seinen Kopf und strengte sich an, nicht Rotz und Wasser zu heulen.
Tickbert dachte nach. Er hätte seinen Freund nun beruhigen können, indem er ihm eine Lüge auftischte. Er hätte sich auch einfach abwenden können, um den Problemen, die sein Freund hatte, aus dem Weg zu gehen. Aber stattdessen blieb er und sein Griff verfestigte sich an der Schulter des Ratonga.
„Du hast sie getötet ...“.
Ximasals Kopf senkte sich. Liebend gerne wäre er aufgesprungen und hätte den Gnom für diesen „Verrat“ den Kopf abgerissen. Liebend gerne hätte er im Diebespfad zurückgelassen – als Futter für seine kranken Artverwandten, die dort unten hausten. Liebend gerne hätte er ihn als einen Sklaven in die „Obhut“ eines gut betuchten Ratonga getrieben.
Aber er wusste, das der Gnom Recht hatte.
Ximasal hatte nie das Zeug dazu, ein wirklich ehrenwertes Wesen zu werden. Dafür hasste er sich selbst. Von seinem Meister wurde er verstoßen, weil er nicht die völlige Offenherzigkeit besaß, die von einem Mönch erwartet wurde. Stattdessen schwang stets eine Spur Hinterlistigkeit und Selbstsucht in all seinen Überlegungen mit – egal, wie sehr er auch versuchte dies zu verdrängen.
Die Gedanken des Ratonga waren schon immer paradox. Obwohl er sich stets um die, die ihm nahe standen, sorgte, sorgte er sich doch niemals wirklich um sie. Ein Lebewesen bestand lediglich aus Fleisch und Blut – könnte man nicht etwas Größeres schaffen, wenn man das Leid eines Einzelnen außer Acht ließe um sich voll und ganz um das Wohlergehen aller anderen kümmern zu können?
Tickbert verdrehte die Augen, doch Ximasal übersah das.
„Weisst dus ... um das Vertrauns meiner Auftraggebs zu er..r..re.ringen, muss ichs i..ichs ihre Aufträgs durchziehens.“
Er zitterte am ganzen Leib. Dennoch war der Ratonga so zufrieden mit seiner Antwort, das er gleich noch einen oben drauf setzte.
„Und wenns jemand Unschuldigs stirbt ... hat ers oder sies teils dazu beigetragns, was groß Übels zu vernichtens ...“.
Während Ximasal diese Worte von sich gab, stand er wieder auf, schliff schwerfällig das Beil hinter sich her, kniete sich über den Leichnam einer seiner ehemaligen Auftraggeber, holte aus, und trieb es durch Hals und Nacken.
Tickbert zuckte zusammen, als er ein weiteres mal dieses Geräusch hörte.
Frrrtschkrrrrk
Er schüttelte den Kopf, wendete sich ab und machte sich wieder Richtung Innenstadt auf.
„Es ist deine Entscheidung ...“.
Ximasal hörte schon längst nicht mehr zu. Sein verbissener Blick war auf die geschändete Leiche unter ihm gerichtet, seine Fratze dermaßen verzehrt, dass selbst jene Angst bekommen würden, die Ratonga für „süß“ befanden. Längst hatte er das nächste Stadium seines Deliriums erreicht. Zu dem bisherigen Sprachfehler gesellte sich noch Stottern hinzu.
„I..ich ... hab .. s..sie befreit. S...s...sie müss...ens ni..nicht mehr lei..leidens.“.
Er ließ sich auf seinen Hintern sinken und starrte hinauf in den sternenklaren Himmel.
„I...IN EU...REM N..N...NAMEN!“
Seine Stimme senkte sich, genau wie sein Kopf.
„H..hab das ... wollts euch alle nicht tötens... Abers war notwendigs ... ums böse Leuts zu .. um böse Leuts zu ... richtens.“.
Ximasal schluchzte.
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